Freitag-Debatte Utopie konkret   Was tun, wenn nichts mehr geht


Freitag 21, 15. Mai 2004

Hans Thie

Schöne neue Welt

Revolution statt Depression: Neue Trends der Emanzipation von angestammten Privilegien gibt es überall - aber wie bringt man sie zusammen?

Rückschritt ist Fortschritt, Kapitulation ist Politik und die Erde womöglich eine Scheibe - Rot und Grün, die einstigen Hoffnungstupfer, sind mit ihrem Latein am Ende. Jenseits aller Depression aber gedeihen die Projekte, die Arbeitskreise und die Lust, für eine andere Welt zu sorgen.

 


Freitag 22, 21. Mai 2004

Niels Boeing und die Gruppe "km 21.0"

Grenzen einreißen, jeden Tag: Offenheit, Gewaltlosigkeit, Leidenschaft

Zwischen bourgeoisem Jet-Set und proletarisiertem Kleinbürgertum gedeiht der Transkapitalismus

In den dreißiger Jahren meinte John Maynard Keynes, der einflussreichste Ökonom des 20. Jahrhunderts, dass eine längere Periode starken wirtschaftlichen Wachstums genügen müsse, um das ökonomische Problem zu lösen. Die Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas hätten dann Produktionsmittel im Überfluss, könnten jedes Bedürfnis befriedigen, und die Bürger würden sich dann wohl den angenehmeren Dingen des Lebens zuwenden. In den siebziger Jahren war sie tatsächlich da, die Chance, in ein solidarisches post-industrielles Zeitalter einzutreten. Nur mit dem Roll-Back der Mächtigen hatte Keynes nicht gerechnet. Und so ist heute die Frage, auf welchem Boden sowohl Freiheit als auch Solidarität wachsen könnten, neu zu beantworten.

 


Freitag 23, 28. Mai 2004

Michael Jäger

Wie wäre es, wenn es Marktwahlen gäbe?

Vergesellschaftung der Unternehmerfunktion: Ein Querpass für mutige Fachökonomen

Statt der Dunkelheit des Kapitals das reine Licht der Utopie entgegen zu setzen, in dem man bekanntlich genau so wenig sieht, wäre es vielleicht an der Zeit, Fragen zu stellen, die eine gewisse, wenn auch noch ferne Aussicht auf Antwort bieten, meinte vor zwei Wochen Hans Thie in seinem Eröffnungsbeitrag zu dieser Debatte (siehe Freitag 21). Zum Beispiel: Wie können Unternehmerfunktionen vergesellschaftet werden? Zwischen bourgeoisem Jet-Set und proletarisiertem Kleinbürgertum gedeihen längst neue, nicht mehr voneinander geschiedene Formen des Arbeitens und des Lebens, die man Transkapitalismus nennen könnte, behaupteten in der vergangenen Woche Niels Boeing und die Gruppe "km 21.0" (siehe Freitag 22).

 


Freitag 25, 11. Juni 2004

Franz Schandl

Die Welt sich vorstellen ohne Geld und Markt

Radikale Lösungen jenseits des Kapitalismus: Wer "Ja, aber" sagt, begibt sich stets in Geiselhaft und endet gesundbeterisch wie jeder dritte Weg in der Kapitulation vor den Verhältnissen

Gibt es in Marx´ und Gottes Namen nirgends brauchbare Ideen, die nicht nur die Politik, sondern auch die ökonomische Welt verändern? Wo sind die konkreten Utopien für jene Sphäre, die nach wie vor das Leben prägt? In den bisherigen Beiträgen zur Freitag-Debatte stand der geldvermittelte Austausch von Waren zwar in seiner heutigen Gestalt, aber nicht prinzipiell zur Disposition. Zur kurz gesprungen, meint nun Franz Schandl. Wer über den Kapitalismus hinaus will, muss auch bereit sein, alte Fundamente zu zertrümmern.

 


Freitag 26, 18. Juni 2004

Stefan Meretz

Den Kampfhund bändigen

Utopie im Alltag: Nicht um den Fetisch "neue" Gesellschaft tanzen, sondern täglich die alten Spielregeln außer Kraft setzen

In der Vergangenheit herrschte auf einem Sechstel der Erde die Vorstellung, dass nach der Konzentration aller Kräfte auf den Staat das Morgenrot schon leuchten werde. Diese Besessenheit ist aus guten Gründen passé. Die sozialdemokratischen Geschwister des Staatssozialismus, die eher sanften Attacken auf das Verfügungsprivileg der Kapitaleigner, sind ebenfalls verschwunden. Wirtschaftsdemokratie und Beteiligung am Produktivvermögen - irgendwie scheinen auch diese zarten Reformpflanzen den Anschluss an die heutige Zeit verloren zu haben. Was also bleibt? Wo sind die Hoffnungsträger, die Keime für eine postkapitalistische Ökonomie? Wenn es den großen alternativen Entwurf schon nicht gibt, dann wird das alltägliche Anders-Handeln vielleicht um so wichtiger.

 


Freitag 27, 25. Juni 2004

Im Gespräch mit Hermann Scheer (SPD)

Wir hängen am seidenen Faden

Die Energie- als Machtfrage: Hermann Scheer, SPD-Bundestagsabgeordneter und Vordenker einer solaren Weltwirtschaft, über die Irrtümer der Umweltbewegung und die Chancen einer Energierevolution

Nicht um den Fetisch »neue Gesellschaft« tanzen, sondern täglich die alten Spielregeln außer Kraft setzen, empfahl vor einer Woche der Informatiker Stefan Meretz in dieser Freitag-Debatte. Die fossilen Ressourcenkreisläufe ins Abseits stellen, so könnte man die Maxime von Hermann Scheer zusammenfassen. Als Präsident von EUROSOLAR und SPD-Bundestagsabgeordneter hat er den Einsatz erneuerbarer Energien vorangetrieben und das Szenario einer solaren Weltwirtschaft entworfen: mit unerschöpflichen, emissionsfreien Ressourcen, mit energetischer Selbstversorgung statt Fremdversorgung, mit einem Freiheitsgewinn für Bürger und Regionen, der nicht zu Lasten anderer geht. Wenn dem Kapitalismus das Öl und die Atomkraft genommen ist, wenn Energie und andere Ressourcen vor Ort produziert und auf regionalen Märkten gehandelt werden, sind dem Tiger die Reißzähne gezogen, behauptet Hermann Scheer. Die Eigentumsfrage würde ihre Brisanz verlieren, weil die Menschen in den wichtigsten Lebensfragen souverän geworden sind. Kann Herrmann Scheers Vorschlag einer Revolution auf leisen, ökologischen Sohlen ohne energische Eingriffe in die Verfügungsmacht der fossilen Öl-, Auto- und Chemiekartelle Realität werden? Oder ist die Energiefrage selbst schon die entscheidende Machtfrage?

 


Freitag 28, 2. Juli 2004

Ulrich Weiß

Warum nicht selbst Geschichte schreiben?

Wenn sich Chance in Katastrophen verwandeln: Keine neue Politik, keine Reform, auch keine Weltregierung, sondern nur die Aufhebung der Verwertungsgesellschaft kann die Gesellschaft verändern

Die Macht geht zwar vom Volke aus, aber unterwirft sich nach jeder Wahl im Handumdrehen dem Diktat der Märkte. Je ungleicher Kapital, Ressourcen und Chancen verteilt sind, desto mehr wird die parlamentarische Demokratie zu einer Karikatur. Mehr denn je scheint die Forderung berechtigt, dass wir an Stelle der heutigen Verhältnisse, die alles einem in Geld messbaren Nützlichkeitskalkül unterwerfen, etwas ganz anderes brauchen. In seinem einleitenden Beitrag warnte Hans Thie (Freitag 21 vom 14. Mai): »Die Gesamtheit wirtschaftlichen Handelns mit einem großen Donnerschlag von äußeren Zwängen zu befreien, alles abzuschaffen, was nach Entfremdung riecht - das wäre die Negation, die sich auf Dauer im Ghetto einrichtet.« Anknüpfend an Franz Schandl (Freitag 25 vom 11. Juni) und Stefan Meretz (Freitag 26 vom 18. Juni) bestreitet Ulrich Weiß diese These und behauptet: »Wie kann es ganz anders gehen? Das ist die einzig sinnvolle Frage.«

 


Freitag 29/30, 9. Juli 2004

Rainer Fischbach

Immer wieder diese romantischen Illusionen

Freier Zugang zum Weltwissen ist gut, solare Ressourcen sind noch besser: Doch es gibt keinen technologischen Zauberstab, der uns die Zähmung und Lenkung komplexer Systeme erspart

»Es gibt keine Alternative zu unserem Reformkurs.« Mit dem Rücken zur Wand und ohne irgendeinen Erfolg vorweisen zu können, wiederholt Kanzler Schröder permanent sein Glaubensbekenntnis. Diese Haltung, die das gesamte Establishment eint, könnte man bürgerlichen Stalinismus nennen: Es gibt nur einen eizigen Weg und der ist vorherbestimmt. Ganz anders dagegen der Ausgangspunkt dieser Freitag-Debatte: Geschichte ist immer ein offener Prozess. Doch welche Alternativen, welche konkreten Utopien sind realistisch und welche nicht? Wo sind die Hoffnungsträger für mehr Freiheit und mehr Gerechtigkeit? Nicht vorschnell in gedankliche Sackgassen zu rennen, empfiehlt Rainer Fischbach, der sich die Beiträge angesehen hat, die in den vergangenen Wochen erschienen sind.

 


Freitag 32, 30. Juli 2004

Ulrich Busch

Was die Welt im Innersten zusammenhält

Abschaffung des Geldes: Kritische Anmerkungen zu einer Lieblingsidee sozialer Utopien

Zeit ist Geld. Geld regiert die Welt. Money makes the world go around. Money, money money. Und immer wieder scheidet das Geld nicht nur die menschlichen Geschöpfe unterm Himmelszelt, sondern auch ihre auf Veränderung sinnende Gedankenwelt. Kann man das Geld, das Karl Marx einmal den Kommunismus nannte, den man in der Hosentasche trägt, einfach abschaffen? Wäre eine Zähmung des Geldes und der Neigungen, die von ihm ausgehen, der bessere Weg? Es gibt noch eine dritte Variante, behauptet der Finanzökonom Ulrich Busch.

 


Freitag 33, 06. August 2004

Robert Kurz

Billigrezepte für den sozialen Schnellkochtopf

Falsche Unmittelbarkeit: Kampflos und mit Wegdenken statt Nachdenken ist Emanzipation nicht zu haben

In seinem Buch "Parecon. Life after Capitalism" stellt sich der Amerikaner Michael Albert die Frage, wie Unternehmen funktionieren würden, wenn das Privateigentum an Produktionsmitteln und die damit verbundene Macht außer Kraft gesetzt wären. Was würde passieren, wenn die Menschen selbst zu entscheiden hätten, was bisher die Unternehmer, die Kapitaleigner und ihre Manager regeln. Wer bestimmt dann die Löhne, die Arbeitsteilung, die Produkte, die Investitionen? Und wie lässt sich diese nach wie vor dezentral verfasste Volkswirtschaft koordinieren? Vielleicht ist der Gärungsprozess in der Gesellschaft, die überall zu hörende Unzufriedenheit mit den heutigen Zuständen, noch nicht genug gediehen, um durchdachte Antworten erwarten zu können. Auch die Autoren der Freitag-Debatte versammeln sich bislang um den Startblock und fragen sich zunächst, wohin sie springen sollen. Das muss auch so sein, sagt nun Robert Kurz: Wer die falschen Ausgangspunkte setzt, hat keine Chance. Trotzdem: die positiven Entwürfe werden noch kommen.

 


Freitag 35, 20. August 2004

Christoph Speer

In der Welt von Meyer und Marx

Non-profit, collective rule, open source: Erfahrungen aus der Zukunft des offenen Sozialismus

Was sollen wir denn sonst tun, wenn bei uns nichts mehr geht? Mit den wütenden Protesten gegen die Zumutungen von Hartz IV hat die Leitfrage dieser Freitag-Debatte zumindest eine erste praktische Antwort gefunden. Dass verordnete Armut in einem reichen Land mit Sachzwängen nicht zu begründen ist - das zumindest ist zur Gewissheit geworden. Und immer häufiger - im Osten mehr als im Westen - äußert sich der Verdacht, dass diese Gesellschaft keine lebenswerten Perspektiven mehr zu bieten hat. So groß das Unbehagen, so unübersehbar ist aber auch die Verlegenheit: Wie könnte es anders funktionieren? Müssen nicht irgendwann, wenn die permanente Erpressung ein Ende haben soll, die Unternehmerfunktionen vergesellschaftet werden? Christoph Speer wagt nun den Versuch, Freiheit nicht nur rechtlich, sondern auch ökonomisch auf Gleichheit zu gründen. In der Welt, die er entwirft, gehören die Produktionsmittel allen zu gleichen Teilen.

 


Freitag 37, 03. September 2004

Annette Schlemm

Nur Altes im Neuen?

Häme ist keine Kritik: Es geht nur um Beispiele, die zeigen, wie Menschen sich in einer Weise selbst organisieren, die es historisch so noch nicht gegeben hat

Vor vier Wochen eröffnete Robert Kurz seinen Debattenbeitrag mit einer Absage: "Die Utopien zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Kinderschuhe des Sozialismus. Gegen die miserable frühkapitalistische Wirklichkeit wurden andere Prinzipien ausgeheckt, soziale Formeln für ein ideales Zusammenleben erfunden, "Grundriß und Aufriß" (Marx) einer ganz anderen Gesellschaft gezeichnet, und zwar unbekümmert um die reale historische Entwicklung und deren innere Widersprüche. Der Marxismus beanspruchte demgegenüber, den Sozialismus "von der Utopie zur Wissenschaft" (Engels) fortentwickelt zu haben. Sozialer Befreiung sollte die Einsicht in die "Gesetzmäßigkeiten" des Kapitalismus und der Geschichte zu Grunde liegen. Daraus entstand die Idee einer staatlichen Regulation der Arbeit. Der Sozialismus wurde politisch. In dieser Hinsicht geht heute gar nichts mehr." Kein Einwand gegen dieses Urteil, meinen sowohl Annette Schlemm als auch Ulrich Weiß. Aber was, fragen sie zurück, geht denn nun?

 


Freitag 39, 17. September 2004

Fritz Reheis

Weg mit dem Turbo, her mit der Zeit

Ein natürliches Maß gegen die kapitalistische Maßlosigkeit: Entschleunigung könnte nicht nur ein utopisches Zauberwort, sondern auch ein bündnisfähiges Ziel sein

Soziale und kulturelle Veränderungen haben eine ungleich höhere Innovationsgeschwindigkeit als natürliche. Gesellschaftliche Institutionen und kulturelle Technologien können schneller verändert werden als Gene und Ökosysteme. Am langsamsten sind bekanntlich die astrophysikalischen Veränderungen: Die eherne Erdbewegung um die Sonne und um ihre eigene Achse ist es letztlich, die alles Leben auf Erden antreibt und taktet. Institutionen und Technologien müssen stets in diese Naturgegebenheiten eingebettet bleiben, wenn sie nicht entgleisen sollen. Intellektuell solide Utopien müssen also anerkennen, dass der Mensch zu allererst der Natur, auch seiner eigenen, ihre Zeit lassen muss, meint Fritz Reheis, der in mehreren Büchern eine Utopie der Entschleunigung entworfen hat. Er bekräftigt damit die Kritik von Rainer Fischbach am "Platonismus" mancher linker Entwürfe (siehe Freitag 29 vom 29. Juli). Der Primat des Materiellen, meint auch Fritz Reheis, ist der oberste Maßstab für die Gestaltung einer alternativen Zivilisation.

 


Freitag 41, 1. Oktober 2004

Michael Opielka

Wenn Lohnarbeit nicht mehr das Einzige wäre

Grundeinkommen statt Hartz IV: Es geht nicht um radikale Gleichmacherei, sondern um Existenzsicherung und Schutz vor Armut

Schon lange nicht mehr bedeuten Reformen das, was sie in den ersten Nachkriegsjahrzehnten einmal waren: Verbesserungen für diejenigen die eher im Schatten der Gesellschaft stehen. Hartz IV, betrieben von Rot-Grün und gefördert von Schwarz-Gelb, ist der vorläufige Höhepunkt der sozialpolitischen Gegenreformation. Die Montagsdemonstrationen haben manches bewirkt, aber das Armutsprogramm nicht stoppen können. Vielleicht wäre es für die Zukunft gut, nicht nur gegen Zumutungen zu protestieren, sondern auch einen eigenen Vorschlag mit Macht in die Debatte zu werfen. Grundeinkommen - dieses fast schon magische Stichwort fällt immer wieder. Aber wie könnte es funktionieren? Michael Opielka beschäftigt sich bereits seit längerem mit dieser Frage und benennt die Hürden, die zu bewältigen sind.